Eine heranwachsende Tochter erzählte ihrer Mutter jeden Nachmittag von ihren Erlebnissen in der Schule. Ein Junge stach in ihren Geschichten immer wieder hervor. Ihr Blick veränderte sich jedes Mal, wenn sie von ihm sprach. Er war kühl und abweisend, genau wie der Junge auch. Er war gemein zu ihr und ärgerte sie. Dann wieder gab es Momente, in denen er ganz nett und freundlich mit ihr sprach und manchmal so gar mit ihr lachte. All das erzählte die Tochter ihrer Mutter jeden Tag. Die Mutter hörte geduldig zu und fragte nach vielen Monaten ihre Tochter wann sie sich endlich eingestehen will, dass sie diesen Jungen mag. Ihr Blick veränderte sich und sie begann zu weinen. Die Last, ihre Gefühle verbergen zu müssen, brach unter ihr zusammen. Sie konnte sie nicht so gut verstecken, wie sie es gern gewollt hätte. Die Mutter wusste es von Anfang an. Nun konnten sie sich ganz offen unterhalten und die Mutter konnte ihrer Tochter von den Wirren der Gefühle erzählen, die es im Menschen gibt. Menschen sind gemein zueinander, wenn sie sich mögen. Sie verletzen einander, weil sie selbst verletzt wurden. Sie sehnen sich nach Liebe, weil sie selbst nicht genug bekamen. All diese Gespräche berührten die Tochter tief in ihrem Herzen. Sie verstand, dass der Junge nicht gemein war, weil er sie nicht leiden konnte. Sondern weil er sich selbst nicht mochte. Weil er sich selbst nicht wertvoll genug fühlte. Sie verstand, dass die Verletzungen, die er ihr antat, nicht ihr galten, sondern ihm selbst.
Ein warmer Schauer durchfuhr ihren Körper. Sie sah ihre Mutter an und fragte: „Was geschieht denn hier? Wieso muss ich weinen? Wieso klopft mein Herz so sehr? Was ist das?“
„Das, mein Kind, ist die bedingungslose Liebe.“, sagte die Mutter.
Weil die Tochter verstand, dass der Junge in der Tiefe seines Herzens eine reine Seele ist, die in Wahrheit nicht verletzen sondern lieben will, öffnete sich ihr Herz voll und ganz für ihn. Sie wehrte sich nicht mehr gegen ihre Gefühle. Sie ließ es zu, dass die Liebe ihren ganzen Körper, ihr ganzen Wesen einnimmt und schwebte wie auf Wolken. „Ich fühle mich, als wäre ich auf Drogen!“, rief sie überglücklich und tanzte durch den Raum. Nichts hätte ihre Laune verderben können. Sie badete in Liebe und genoss es in vollen Zügen. Das war es, was sie die ganze Zeit unterdrückt hatte. Das war es, was sie so sehr vermisst hat.
Sie traf eine Entscheidung.
Die Tochter nahm ihren ganzen Mut zusammen und sagte dem Jungen am nächsten Tag mit zitternder Stimme, dass sie ihn liebt.
Eine unerträgliche Stille trat zwischen ihnen.
Als der Junge den Mund öffnete, um ihr zu antworten, bekam die Tochter die gemeinste Abfuhr ihres Lebens.
Sein Herz öffnete sich nicht für sie. Er hielt es verschlossen und schleuderte ihr diese Tatsache mit furchtbar verletzenden Worten entgegen.
Die Tochter lief nach Hause und weinte in den Armen ihrer Mutter. „Ich hasse ihn!“, schrie sie und weinte bitterliche Tränen der Enttäuschung.
So jung und so verletzt.
Die Mutter konnte nichts tun, außer sie zu halten und ihr zuzuhören. Trotz aller Schmerzen, die die Tochter erfahren musste, beschloss sie ihr Herz trotzdem offen zu halten. Sie wollte zwar nicht, dass ihr Herz auf diese Art nochmals verletzt werden könnte. Aber der Schmerz, den sie spürte, als sie ihr eigenes Herz verschlossen hatte, war für sie größer, als alles andere, was sie bisher erlebt hatte. Die Mutter war unendlich stolz auf ihre Tochter, dass sie den Mut hatte, den Weg der Liebe zu beschreiten. Sie wusste wie hart und anstrengend und doch lohnenswert er ist.
Es verging eine Zeit, in der die Tochter den Jungen nicht sah. Doch sie fürchtete sich vor dem Tag, an dem sie sich wieder begegnen würden. Welche Gefühle würde sie dann haben? Wie wird er auf sie reagieren? Wird sie in der Lage sein, ihr Herz für ihn offen zu halten und ihn bedingungslos zu lieben, auch wenn er es nicht tut?
Zu ihrer Erleichterung war ihr Verhältnis nicht anders als vorher. Er ärgerte sie immer noch an einem und lachte mit ihr am anderen Tag. Alles schien normal. Doch für die Tochter war es das nicht. Täglich kam sie nun nach Hause zu ihrer Mutter und erzählte ihr die neuesten Geschichten. Sie sprachen darüber, wie schwer es ist, das Herz zu öffnen und die Liebe fließen zu lassen, wenn er so gemein zu ihr war. Etwas in ihr wollte es immer weniger. Sie spürte es und konnte nichts dagegen machen. Etwas in ihr war noch verletzt und weigerte sich zu vergeben. Irgendwann fragte die Mutter nach der Gefühlslage ihrer Tochter, denn sie hatte seit mehreren Tagen keine Geschichten mehr von ihr gehört. Die Tochter war gefasst und bewusst und sagte, dass alles wieder so ist, wie am Anfang. Sie hatte beschlossen ihr Herz wieder zu verschließen. Ihr kühler Blick war wieder da und verriet die Verletzung, die der Junge ihr angetan hatte. Jeden Tag, wenn sie ihn sah, wurde sie an diesem Moment erinnert, an dem er ihr die gemeinste Abfuhr ihres Lebens erteilt hatte. Etwas in ihr nahm es ihm so übel, dass sie davon überzeugt war, dass er ihre Liebe doch nicht verdient hatte.
Die bedingungslose Liebe war verschwunden. Und die bedingte Liebe hatte entschieden, dass er sie nicht mehr bekommt. Weil er sie nicht so behandelt hat, wie sie es sich selbst wert ist. Sie entschied sich für Liebesentzug als Bestrafung.
Die Mutter sprach abermals mit ihrer Tochter und öffnete ihr die Augen über ihr Verhalten. Sie erinnerte sie daran, dass Menschen einander verletzen, weil sie selbst verletzt wurden. Und sie erinnerte sie daran, dass Menschen sich in Wahrheit nach bedingungsloser Liebe sehnen, weil sie sie selbst nicht genug bekamen.
Die Tochter begriff.
Ihr Blick veränderte sich wieder und wurde weich. Sie fühlte die inzwischen bekannte Wärme in ihrem Herzen und ließ zu, dass sie wieder langsam durch ihren ganzen Körper strömte. Entgegen ihres eigenen Willens, öffnete sich ihr Herz erneut für die Welt
… und für den Jungen.
Die Liebe war zu ihr zurück gekehrt. Obwohl es ein Teil in ihr nicht wollte.
Sie ging zurück in ihr Zimmer und dachte über das Gesagte nach. Sie fühlte die Liebe und spürte auch, dass dieser eine verletzte Teil ihre Liebe nicht zu dem Jungen lassen wollte. Er hat es nicht verdient. Sie wollte nicht mehr so für ihn fühlen. Ein Teil in ihr weigerte sich.
Vergebens …
Die Tochter kam noch einmal zu ihrer Mutter und fragte: „Warum muss ich jetzt wieder ständig an ihn denken? Warum sind diese Gefühle wieder da? Er hat es nicht verdient. Er war gemein zu mir. Warum fühle ich trotzdem so für ihn?“
Und die Mutter antwortete:
„Wenn man beginnt das Gute im Menschen zu sehen, kann man nicht anders als ihn zu lieben.“