von Sandra Kempe
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27. August 2024
1. Mein kleines ich Mein liebes Ego, mein kleines ich, was ICH mir aufgebaut habe, ich weiß, du hast mich beschützt. Ich weiß, du hast mich gerettet. Ohne dich wäre ich heute nicht hier. Ohne dich hätte ich mich schon aus diesem Leben verabschiedet. Ganz leise wäre ich gegangen. Ich weiß das. Wenn ich nicht mehr weiter machen wollte, hast du mich trotzdem immer wieder angetrieben. Hast mit großer Härte dagegen gekämpft, dass ich aufgebe. Hast mich immer wieder aufgerüttelt ein Stück weiter zu gehen. Noch ein Schritt. Und noch ein Schritt. Irgendeine Instanz in mir wollte unbedingt leben. Und du hast ihr geholfen. Dafür werde ich dir ewig dankbar sein. ❤️🙏 Oft habe ich früher gedacht, dass es sinnlos wäre. Dass es eh nicht besser wird. Dass mir eh niemand hilft. Alle Versuche waren vergebens. Ich wurde nicht gesehen. DU hast mich immer gesehen! Du hast mich stark 💪 gemacht. Irgendwann konnte ich auf eigenen Beinen stehen, meine eigenen Entscheidungen treffen. Ich war frei in meinen Entscheidungen. Ich konnte machen, was ich wollte und wollte machen, was ich konnte. Aber dann hat es sich gedreht, liebes Ego, mein kleines ich. Irgendwas ist passiert, dass du nicht mehr gut für mich warst. Ja, ich verstehe. Du hast diesen Weg damals für mich gewählt, weil du erkannt hast, clever wie du warst, dass das der richtige Weg für mich ist. Und du hattest Recht! Damals hattet du Recht! Aber irgendwie hast du dich nicht mit mir verändert. Du hast immer an deinen alten Wegen festgehalten. Auch wenn, ich gesagt habe, wir gehen jetzt andere Wege. Du wolltest es nicht. Du hast immer Gründe gefunden, dass es nicht funktionieren würde. Das alte "Es ist vergebens. Es wird nichts bringen." hast du mir immer wieder vor Augen geführt und mich damit daran erinnert, dass es keinen Sinn macht. Aber Ego, mein kleines ich, es tut mir unfassbar leid für dich. Ich sehe dich. Du bist noch dort. Du schaust noch immer nach dem Rechten. Wie ein Pferd mit Scheuklappen kannst du nicht erkennen, dass rechts und links neben dir niemand mehr ist, der gefährlich sein kann. Dass ich nicht mehr dort bin. Dass ich nicht mehr klein bin. Du erkennst nicht, dass ich frei bin. Das tut mir leid. Ich kann dich nicht weiter mit mir ziehen. Ich kann nicht weiter auf dich hören. Denn heute ist dein Weg nicht nur nicht mehr nötig, sondern sogar hinderlich für mich. Wenn ich dich festhalte, komme ich nicht weiter. Angst. Ja, da ist Angst. Ich kann sie spüren, liebes Ego, mein kleines ich. Ich kann sie spüren. Du brauchst mich nicht daran erinnern. Aber weißt du, wenn ich jetzt hier weiter mit dir darüber diskutiere, ob oder ob nicht, will ich dich schon wieder mitnehmen. Und du bewegst dich keinen Zentimeter. Du bleibst wo du bist. Und ich bin ehrlich. Ich würde alles dafür tun, dass du mit mir kommst. Denn ohne dich ... Oh Gott ... ohne dich bin ich Niemand. Angst. Ich sehe wie du schreist. Du zeigst es mir mit Migräne und Verbitterung. Hast genug von meinen Querelen, es macht dir auch keinen Spaß mehr. Du fühlst dich auch immer unsicherer. Dein Weg funktioniert auch nicht mehr. Nun stehen wir da und wissen nicht weiter. Der alte Weg führt mich im Kreis herum und der neue Weg ist im Moment noch gar nicht sichtbar. Lass uns stehen bleiben und schauen, was passiert... 2. Der Dornenbusch Ich bleibe stehen. Ich sehe mich um. Eine Welt ohne Ego ist wie nackt vor einem Dornenbusch zu stehen und nicht zu wissen, wo man durch kommt ohne verletzt zu werden. Es ist unmöglich ohne Verletzung hindurch zu gelangen. Aber es wird gesagt, dass hinter dem Dornenbusch alles einfacher wird. Man müsse nur einmal hindurch gehen. Einmal erleben, wie es ist nackt zu sein. Ich stehe vor diesem Dornenbusch und ich sehe, ich komme alleine nicht durch. Aber ich sehe hier und da Menschen darin herumlaufen als wäre da nichts, was sie verletzen könnte. Viele laufen an mir vorbei. Dann habe ich Mut und spreche eine Frau an. "Hallo, ich bin so unsicher. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wie komme ich hier rein, ohne verletzt zu werden?" Die Frau bleibt stehen und lächelt mich an. "Komm!", sagt sie und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich will sie greifen, aber ich traue mich nicht. Was wird passieren? "Du kannst Angst haben und trotzdem gehen.", sagt sie sanft zu mir. "Du kannst stehen bleiben. Aber dann ist das für dich der Stillstand. Willst du den Stillstand?" Ich sehe sie erschrocken an. Will ich den Stillstand? Für einen kleinen Moment denke ich tatsächlich darüber nach den Stillstand zu wählen. Alles wäre so einfach. Ich müsste nichts mehr fürchten. Ich wäre dort, wo ich gerade bin und könnte einfach da bleiben. Ich muss wirklich nachdenken und lasse mir Zeit. Ich erkenne, dass ich mit Ego einfach alleine durchgegangen wäre. Mein harter Panzer hätte alle Dornen abgebrochen, an denen ich vorbei gegangen wäre. Alle Pflanzen um mich wären daran kaputt gegangen, während ich mir keine Sekunde lang Gedanken darüber gemacht hätte. Den Blick gerade aus gerichtet, würde ich nicht mal sehen, wie andere Menschen um mich herum zauberhafte Dinge machen und dabei ganz automatisch nicht verletzt werden. "Die Pflanzen sind lebendig.", denke ich. Es geht darum, wie ich eintrete. Ich habe einen Einfluss darauf, wie sie reagieren. "Vertraue!" sagt die Frau nun und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe sie verschleiert an. Vertrauen? "Komm hinter mir her und sag mir, was du fühlst.", sagt sie und geht vor mir hinein in den Dornenbusch. "Ich traue mich nicht so richtig. Ich bin wie festgewachsen.", sage ich. "Dann heb deine Beine. Du siehst, du bist nicht festgewachsen." Ich hebe die Beine und wie ferngesteuert mache ich den ersten Schritt nach vorn. "Oh, das war überraschend einfach.", sage ich. Aber noch stehe ich nur davor. "Denke nicht weiter darüber nach, fühle nur, was da ist und erzähl es mir.", fordert mich die Frau auf. Ich will ihr sagen, dass ich immer noch Angst habe, stelle aber sofort fest, dass das gar nicht mehr stimmt. Ich wollte mich einfach wiederholen. Die alten Erinnerungen wollten mich davon abhalten in etwas Unbekanntes einzutreten. Plötzlich habe ich keine Lust mehr mich zu wehren und zu verhandeln. Aus Angst wurde plötzlich Neugier. Die Frau vor mir tut es doch bereits. Und ich sehe, dass sie glücklich ist. Ich entspanne mich, wenn auch etwas verwundert darüber, wie aus Angst Neugier werden kann und wie ich jetzt so leicht-sinnig in einen gefährlich aussehenden Dornenbusch einsteigen will, und lächle. Geschichten. Ich erzähle mir hier Geschichten. 3. Mitten drin Die Geschichte von der Angst ist zu Ende erzählt. Sie hat keine Kraft mehr. Angst hemmt und lässt mich stehen bleiben. Aber die pure Neugier lässt mich nun nackt vor einem Dornenbusch stehen, in dem ich jeden Moment eintreten werde. "Habe ich nicht noch was zu tun?", denke ich gedankenverloren und gehe jeden einzelnen möglichen Aspekt durch. Haushalt. Arbeit. Familie. Freunde. Den könnte ich auch mal wieder anrufen und sie könnte ich auch mal wieder besuchen. "Wo bist du gerade?" holt mich die Frau wieder aus meinen Gedanken. Ja, wo war ich denn? Körperlich bin ich doch gerade vor diesem Dornenbusch. Aber gedanklich war ich ganz woanders und an verschiedenen Orten. Und an keinem dieser Orte war ich fähig zu handeln. Weder fähig jemanden zu besuchen, denn der Körper ist hier, noch durch den Dornenbusch zu gehen, denn der Verstand war woanders. Stillstand. Geschichten. "Ich bin hier.", sage ich leise. "Ich bin hier." Noch leiser. Ruhiger Atem. Ganz still und sanft. "Ich bin hier." flüstere ich zu mir. Die Angst kommt wieder hoch. "Was sagt dein Herz?", fragt mich die Frau. Ich schaue sie an und Tränen füllen meine Augen. Ich lächle sie an. Ich muss nichts sagen. Ich vertraue. Und gehe los. Die Frau geht ruhigen Schrittes mit mir durch die ersten Schichten des Dornenbusches. Ich sehe wie sie jeden Zweig, der sich ihr nähert, mit einem liebevollen Lächeln begrüßt und mit den Händen berührt. Jeder Dorn, den sie berührt, wurde zu einer wunderschönen Rosen. Jeder einzelne. Weil ich direkt hinter ihr bin, heißen mich Millionen zarter Rosenblüten Willkommen. Sie streicheln meine nackte Haut und ich lächle. In der Liebe anderer zu baden ist wunderschön. Die Rosen geben die Liebe der Frau an mich weiter. Der Abstand zu ihr wird nun immer größer und die Rosen verschwinden langsam wieder. Ganz kurz will Panik in mir aufsteigen. Gleich wird es wehtun. Die Liebe ist weg. Gleich wird es tun. Ohne Liebe tut es weh. Ich schließe kurz die Augen und atme. Ich bin mitten drin im Dornenbusch. Ich kann hier nicht mehr raus. Und ich weiß: JETZT würde mein Ego alles nur noch schlimmer machen. Es würde in Panik verfallen, um sich schlagen, schreien und irgendwie versuchen wollen hier rauszukommen. Die Wunden wären verheerend. Mein Ego würde mir versichern, dass es Recht gehabt hätte. Dass es gefährlich ist und ich nie wieder dort hingehen sollte. Ich lasse es nicht zu mir kommen. Ich lasse es ängstlich vor dem Dornenbusch stehen. Auch wenn ich es schreien höre. Ich bin zu neugierig. Ich habe gesehen, dass es funktioniert. Ich habe gesehen, dass die Dornen sich verwandeln können. Dass sie leben und scheinbar ... Gefühle haben! Wenn sie daran zerbrechen, wenn jemand mit einem Schutzpanzer achtlos hindurch geht, können sie auch erblühen, wenn sie von der Liebe geküsst werden. "Das kannst du auch.", ruft die Frau mir von weitem zu. Sie hat sich zu mir umgedreht und beobachtet mich. "Ich kann das auch." versuche ich mir selbst zu bestätigen. Wie denn? Ich war ratlos. "Was sagt dein Herz?", ruft sie zu mir. Ja, was sagt es? Ich schließe die Augen wieder und will es fragen. Aber ich kann es nicht spüren. Wieder leichte Panik. "Ich kann es nicht spüren!", meine Augen weiten sich. Bin ich verloren? Die Rosen gehen ganz langsam zurück. Ich habe noch ein bisschen Zeit. Aber es wird knapp. Und irgendwie geht es mir zu schnell. "Ich brauche noch Zeit!", rufe ich ihr zu. Aber nun ist sie weg. Sie hat mich alleine gelassen. Schon wieder hat mich jemand alleine gelassen. Mein Ego würde jetzt durchdrehen. "Siehst du! Ich hab's dir gesagt! Du kannst niemandem vertrauen. Jeder lässt dich alleine. Komm zurück! Komm zurück zu mir! Ich bin da für dich! Ich bin immer da für dich. Komm zurück!" ruft es mir laut von hinten zu. Und ich erinnere mich daran, wie es für mich da war. 4. Ich brauche Zeit. Ja, mein Ego war immer für mich da. Es war das einzige Wesen... Nein Stopp! ich war das einzige Wesen, was für mich da war. Nur mir selbst konnte ich vertrauen. Meinem Verstand, der alles erklären konnte. Ja, mein Ego war immer für mich da. Wieder schweife ich ab und als ich jetzt alleine zu mir zurück komme, sehe ich, dass die Rosenblüten fast alle verschwunden sind. Stück für Stück werden sie kleiner und entwickeln sich zu Dornen zurück. Gleich wird es weh tun, bin ich mir sicher. Ich halte inne. Mein Ego schreit noch immer. Aber ich kann es kaum mehr hören. Es wird immer leiser. "Was soll ich tun?", frage ich ins Nichts hinein. Niemand ist da. Alles um mich herum ist dunkel. Es wird unheimlich. Und ich weiß, das ist eine neue Geschichte. Die Geschichte der ewigen Dunkelheit, die alles und jeden verschlingt. "Was brauchst du?" flüstert mir eine Stimme zu. Ich weiß nicht wo sie herkommt und sehe noch immer nichts. Die Rosenblüten sind fast verschwunden. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. "Ich brauche Zeit!" rufe ich fast in Panik. Tränen laufen mir die Wangen hinunter. Was hab ich nur getan? Wie bin ich hier hingekommen? Ich blicke hinunter zu meinem Herzen und flüstere: "Ich brauche Zeit." Doch nichts passiert. Die Rosen sind nun fast vollständig verschwunden. Einige Dornen sind schon wieder zu sehen. Ich sehe die letzten Rosenknospen an, die mir noch am nächsten sind. Ich sehe sie flehend an. "Bitte, liebe Rosen. Ich brauche noch ein bisschen Zeit. Bitte geht noch nicht." Ich schließe die Augen und weine. Wo bin ich hier nur gelandet? Wie konnte es dazu kommen? Wie soll ich hier jemals wieder rauskommen? Ich stehe da, noch immer ohne Kleidung, die ersten Dornen spüre ich picksen. Aber anstatt Verzweiflung kommt ganz langsam Neugier auf. Was passiert eigentlich, denk ich, wenn ich hier stecken bleibe? Wenn nichts mehr geht. Welche Möglichkeiten hab ich dann? Ich denke kurz darüber nach und stelle fest. ... Eine neue Geschichte. Die des Wagemuts. Was kostet die Welt? Gib her, ich mach aus Scheiße Gold und verkauf es weiter. Ich habe vor nichts Angst und keiner kann mich stoppen. Schmerzen kenn ich nicht. Ich bin unverwundbar. Oh, denke ich, das bin ich wirklich nicht. Ein weiterer Versuch nicht verletzt zu werden. Immer noch die Angst im Hinterkopf, dass es doch passieren kann. Ich öffne die Augen ganz langsam wieder, um zu sehen, ob sich etwas getan hat. Und ich bin erstaunt! Es hat sich etwas getan! Die Rosenblüten sind nicht weiter geschrumpft. Sie haben mich erhört und warten auf mich. SIE warten auf MICH! Ich bin ihnen so wichtig, dass sie auf mich warten. Wie viel Liebe muss in diesem Dornenbusch stecken, dass sie auf mich warten, um mich nicht zu verletzen. "Ich bin berührt.", sage ich leise und stelle sofort fest, dass es nur leere Worte sind. Worte. Ohne Herz. Ja, mein Herz. Ich kann es noch immer nicht spüren. Ich setze mich hin, schließe meine Augen und beginne mich auf mein Herz zu konzentrieren. Ich konnte nichts fühlen. Das Ego weg. Das Herz weg. Ich war alleine. Nur die kleinen Rosenblüten um mich herum waren noch da und warteten auf mich. "Danke." flüstere ich ihnen zu. "Danke." Das ist alles, was ich sagen konnte. Ich bat um Zeit und die bekomme ich gerade. Ich kann spüren, wie Dankbarkeit in mir aufsteigt. "Ich kann es fühlen." sage ich leise und bleibe geduldig. 5. Ich lebe noch Es brauchte keine Zeit, das Ego loszulassen. Das ging in einem Moment. Eine Entscheidung war dafür nur nötig. Aber es braucht nun Zeit die neue Situation aufzunehmen. Zu erspüren. Mit dem Verstand komme ich hier nicht mehr raus. Das ist mir klar. Hier in diesem Dornenbusch ist nichts logisch erklärbar. Die Rosenblüten haben auf mein ehrliches Flehen reagiert. Aber wie ich jetzt weiter komme, weiß ich noch immer nicht. Ich sitze auf dem Boden und konzentriere mich auf mein Herz. Es klopft stark und mein Brustkorb wird warm. Ich kann eine leise Vibration spüren. Energie. Liebe. Ich will ungeduldig werden und mehr davon. Ich schöpfe Hoffnung schnell hier raus zu kommen. Aber genau in diesem Moment verschwindet es wieder. Druck. Da ist Druck. Ich kann ihn spüren. Mit der Ratlosigkeit hier nichts tun zu können, fest zu hängen, kommt mein altes Muster zurück. "Ich muss doch etwas tun." Leistungsdruck. Wenn ich nichts tue, gehe ich hier ein. Dann sterbe ich. Mein Ego flüstert mir zu: "Tu was! Du musst etwas tun! Sonst stirbst du! Tu was!" Ich denke kurz nach. Ich sterbe doch nicht an ein paar Dornenkratzer. "Und wenn sie giftig sind?", hakt mein Ego nochmal nach. Geschichten. Die Geschichte der tödlichen Gefahr. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich früher wirklich in Lebensgefahr war. Heute glaube ich es nicht mehr so richtig. Und wenn doch, dann ist die jetzige Situation ja wohl der beste Beweis dafür, dass ich trotz allem lebend herausgekommen bin. Ich lebe noch. "Ich lebe noch.", flüstere ich und schlage die Augen auf. "Ich lebe noch!", rufe ich ins Leere hinein und stehe auf. "Ich lebe noch!" Ich reiße die Arme hoch und schreie es in die Dunkelheit hinein. Wieder überschwemmen Tränen meine Augen und laufen über mein Gesicht. Ich lebe noch! Etwas, was doch eigentlich wirklich offensichtlich war, wird mir erst jetzt so richtig bewusst. Ich lebe noch, bedeutet, dass ich nicht gestorben bin. Dass ich aus dem Schlimmsten, was mir bisher passiert ist, rausgekommen bin. Ja, ich hatte Hilfe. Mein Ego hat mir geholfen. Es hat mich beschützt. Ich lebe noch. Ich drehe mich um zu meinem Ego, was noch immer ängstlich auf der anderen Seite steht und sich keinen Millimeter wegbewegt hat, und rufe ihm voller Freude zu: "Ich lebe noch!", und beginne zu lachen. Lebensfreude. Das ist Lebensfreude. Die Freude darüber, dass ich noch lebe. Und ich spüre einen Unterschied in mir, ob ich sage, dass ich lebe oder dass ich "noch" lebe. "Ich lebe" berührt mich nicht so sehr, wie die Tatsache, dass ich "noch" lebe. Da spielt die Zeit wieder eine Rolle. "Noch" sagt, dass etwas über eine gewisse Zeit da ist, aber irgendwann enden kann. Oder eben, dass etwas über eine gewisse Zeit da war, obwohl es schon hätte enden können. "Ich lebe" dagegen fühlt sich leer an. Zumindest jetzt. Ich lebe noch. Was für ein fantastischer Tag! Jeden Tag möchte ich nun aufstehen und mich darüber freuen, dass ich noch lebe. Dass ich einen weiteren Tag habe, den ich nutzen kann. Aber wofür? Die Rosenblüten scheinen mich anzusehen. Ja, wofür will ich den Tag denn nutzen? 6. Es gibt nichts zu tun Ich will mir ausmalen, was ich denn alles an einem weiteren Tag machen könnte. Aber es gelingt mir nicht. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und ich verstehe sofort warum. Ich bin in der Zukunft. Ich will jetzt schon wissen, was ich in der Zukunft machen will. Währenddessen hätte ich fast vergessen, dass ich hier immer noch in einem Dornenbusch stehe. Die Rosenblüten warten noch immer auf mich. Ich drehe mich wieder nach vorn um und lasse mein Ego hinter mir. Es ist verstummt. Darauf, dass ich noch lebe, hat es nicht reagiert. Es hatte unrecht. Und das wusste es. Ich sehe mich um. Noch immer ist alles dunkel um mich herum. Aber ich fühle mich nicht mehr so erdrückt. Selbst jetzt, wo ich nicht viel sehen kann, freue ich mich darüber, dass ich noch lebe. Es wird still in mir. Sehr still. Ich entspanne mich. "Was kann ich tun?", frage ich mich selbst und antworte sogleich: "Nichts. Im Moment kannst du nichts tun." Und dieser Gedanke scheint im Hall der Dunkelheit unendlich weit nachzuklingen. Wenn ich nichts tun kann, denke ich, dann muss ich warten. Warten auf einen Impuls, eine Idee oder jemanden, der mir weiter hilft. Ich hatte vorhin schon versucht nach Hilfe zu rufen. Aber es kam niemand. Mir wird wohl jemand helfen. Und vermutlich ist das die Lösung, denke ich. Die alte Überzeugung "Niemand hilft mir, ich muss mir selbst helfen." hatte mich oft in die Einsamkeit katapultiert. Ich habe niemandem vertraut und Hilfe nicht angenommen. Sie war doch nicht richtig, so wie ich es gebraucht hätte. Dann mach ich es lieber selber, hatte ich dann immer gedacht ... und auch getan. Nun bin ich wieder auf mich alleine gestellt. Aber nicht, weil ich jemanden abgelehnt habe, sondern weil es gerade einfach so ist. Ich kann es nicht ändern. Und im Moment kann ich nicht mal jemandem die Schuld geben. Weder mir, noch jemand anderen. Es ist wie es ist. Es ist wie es ist. Und es gibt nichts zu tun. Eine Gelassenheit macht sich in mir breit. Okay. Dann ist das so. Und ich warte. ... Ich lebe noch ... 7. Tu' was! Eine ganze Weile muss ich so gestanden haben. Irgendwie hab ich das Zeitgefühl verloren. "Mir wird langweilig." flüstere ich zu mir selbst. So ist es doch irgendwie doof. Es passiert ja gar nichts. Nichts bewegt sich. Jetzt ist es auch nicht mehr so toll, dass ich noch lebe. "Dann tu etwas." flüstert mir eine leise Stimme zu. Ich drehe mich um. Wo kam das her? Ich hätte schwören können. ... Ach egal. Ich wollte wieder etwas herausfinden und mich damit davon ablenken, wo ich gerade stehe. Langsam hab ich den Dreh raus. "Was soll ich tun?" Ein bisschen verwirrt bin ich schon. Erst heißt es, es gibt nichts zu tun. Und jetzt heißt es plötzlich ich soll etwas tun. Die kurze Genervtheit weicht rasch einer tiefen Erkenntnis. Vorhin wollte ich schnell eine Lösung finden für mein Problem. Ich wusste nicht weiter. Ich wusste also nicht mal, was ich wollte. In diesem Moment sagte die Stimme zu mir, dass es nichts zu tun gibt. Und ich konnte mich entspannen. Ich konnte mich so tief entspannen, dass ich irgendwann entspannt genug war, um wieder etwas zu tun. Zu handeln. Selbst wirksam zu werden. Aber was kann ich denn tun? "Was willst du verändern?" fragte die Stimme nun und ich glaube sie näher zu hören, als zuvor. Ich denke kurz nach. Ja, was will ich verändern? "Also im Moment stecke ich hier fest. Es ist dunkel und ich komme nicht weiter. Spaß macht das nicht. Ich möchte gerne vorwärts gehen. Ich möchte schauen, was es hier noch gibt. Wo es lang geht. ... Wohin auch immer." Ich bin selbst überrascht darüber, dass ich nicht einmal den Ausgang finden will. Es ist mir gerade egal, ob ich hier raus komme. Im Moment bin ich irgendwie viel mehr darauf neugierig, was es hier alles zu entdecken gibt. Offensichtlich ist das nicht nur ein normaler riesengroßer Dornenbusch. Er ist verzaubert. Er kann sich auch verändern. Und er reagiert auf die Menschen in seiner Umgebung. Die Frau, die voller Liebe den Busch zum erblühen gebracht. Die gepanzerten Menschen, auf die der Busch mit Verwesung reagiert hat. Und ich, auf die der Busch unmittelbar reagiert hat. Erst hab ich mich von der Liebe der Frau anstecken lassen. Dann wurde es dunkel, als es auch in mir dunkel wurde. Dann hörten die Rosenblüten auf zu schrumpfen, als ich um mehr Zeit bat. Und nun schaue ich um mich herum und sehe Menschen durch den Busch laufen. Um einen ist es hell und bunt um den anderen dunkel und schmerzhaft. Ich kann die Schreie hören. Und die Liebeslieder. Sie bewegen sich alle durch den Dornenbusch. Jeder auf seine Art. Jeder so, wie er es entscheidet. In jedem Augenblick neu. Nur die Achtsamen sind in der Lage Rosenblüten entstehen zu lassen. Die, die mit ihrer Liebe andere erfreuen und mit sich im Reinen sind. Um sie herum ist es wunderschön, warm und weich. Und ich erkenne, dass ich jahrelang den Dornenbusch unachtsam zerstört habe, anstatt ihn zum Erblühen zu bringen. 8. Strahle! "Was möchtest du tun?" fragt mich die Frau. Ich erschrecke fast. Sie steht direkt vor mir. Ihre Seite voller Rosenblüten. Die Rosenblüten meiner Seite noch immer in der Bewegung erstarrt, meiner Bitte nachkommend mir noch etwas Zeit zu geben. "Ich möchte auch Rosen entstehen lassen.", antworte ich und strahle sie dabei an. "Kannst du mir erklären, wie das geht?" "Nein, ich kann es dir nicht erklären. Aber dein Herz kann es.", antwortet sie und zeigt auf meinen Brustkorb. Sofort berühre ich die Stelle meines Herzzentrums. Ich fühle es klopfen. Es sagt, dass es da ist. Mein Herz ist da! Ich fühle es klopfen und ich bin dankbar. "Ich lebe noch.", sage ich zu ihm. "Ja!" ruft es mir freudig entgegen. Es spricht zu mir! Dankbar lass ich den Kopf sinken. "Danke", sage ich zu ihm. "Ich danke DIR" antwortet es liebevoll. Oh soviel Weichheit. So viel Zartheit. Keine Spur von Groll oder Enttäuschung darüber, dass ich mein Herz so viele Jahre missachtet und ignoriert habe. Nur pure Glückseligkeit darüber, dass ich es jetzt tue. Da ist mein Herz. Nein, hier ist mein Herz. Ich bin mein Herz. Und jetzt, liebes Herz, was ist zu tun? "Strahle!" fordert es mich liebevoll auf. "Strahle dich selbst aus. Von Innen nach Außen. Liebe dich vollkommen. So wie du bist. Du bist hier. Du bist wertvoll. Du bist alles, was nötig ist. Strahle! Und zeige was für wunderschöne Blüten du entstehen lassen kannst." Die warmen Worte meines Herzens berühren mich in jeder Zelle meines Körpers. Ich kann das nicht TUN. Es passiert einfach. Das Einzige, was ich tun kann, ist es NICHT aufzuhalten. Mein Herz strahlt von allein von Innen alles aus und lässt meinen Körper vibrieren. Ich schließe die Augen und lasse die Wellen der Liebe durch mich fließen. Und mit jeder Welle breitet sich meine Liebe weiter aus und berührt erst eine, dann zwei, dann zehn Dornen, die sofort zu wunderschönen Rosenblüten werden. Welle für Welle treiben mehr Rosen aus den Zweigen. Und mit jeder entstehenden Rose, die ICH gemacht habe, wird mein Herz wärmer und strahlt noch mehr. Alles potenziert sich und bald bin ich von Rosen umzingelt. Die Dornen sind verschwunden. Die dunklen Menschen sind verschwunden. Überall ist es hell und freundlich. "Und nun bewege dich!", sagt die Frau zu mir. Und wir gehen durch den Dornenbusch, der keiner mehr war. Je weiter wir uns von der liebevollen Kraftquelle entfernen, die ICH gerade erschaffen habe, desto weniger werden die Rosenblüten. Dornen sind wieder vermehrt zu sehen und es wird wieder etwas dunkel. Aber wir gehen ungehindert weiter. Denn wie bei ihr vorhin, verwandeln sich jetzt auch bei mir die Dornen in Rosenblüten, sobald sie meine Liebe nur spüren können. Ich sehe ängstliche und verwundete Blicke von anderen Menschen, die gerade in den Dornenbusch geführt und alleine gelassen wurden. "Was sagt dein Herz?", flüstere ich ihnen zu und gehe weiter. ...